Montag, 13. März 2017

Sicherheit und Freiheit im Kontext der Digitalisierung

Freiheit und Sicherheit sind zentrale Werte in modernen Gesellschaften. Zwischen beiden Begriffen existieren wechselseitige Beziehungen, die auch im Kontext der Nutzung digitaler Medien durch Staaten, Wirtschaft und Bürgerinnen und Bürger sichtbar werden. Durch die Digitalisierung haben sich nicht nur neue technische Möglichkeiten ergeben, wie die Möglichkeit der Publikation durch Jedermann oder die Sammlung und Auswertung gigantischer Datenmengen. Mit diesen neuen Möglichkeiten gehen auch neue Fragen nach dem Schutz individueller Freiheiten vor einer Vielzahl möglicher Überwachungstechniken einher, gleichzeitig aber auch nach der Herstellung von Sicherheit in digitalen Räumen.

Der folgende Beitrag konzentriert sich vorwiegend auf dieses Spannungsverhältnis zwischen Freiheit und Sicherheit vor dem Hintergrund der Digitalisierung. Dazu werden zunächst die Begriffe Sicherheit und Freiheit genauer beleuchtet, um anschließend die allgemeine Wechselbeziehung darzustellen. Anschließend soll anhand von verschiedenen Beispielen diskutiert werden, wie in einer digitalisierten und technisierten Welt bürgerliche Freiheiten, der Schutz der Privatsphäre und das Bedürfnis nach Sicherheit vereinbar sind und welche Wechselbeziehungen dabei zutagetreten.



Was ist Sicherheit? 

Sicherheit ist ein menschliches Grundbedürfnis und steht, betrachtet man die Maslowsche Bedürfnishierarchie, bereits an zweiter Stelle. Das Sicherheitsbedürfnis folgt direkt auf die physiologischen Bedürfnisse, wie die Aufnahme von Nahrung oder Schlaf. Sicherheit ist damit die Basis für die Erfüllung sozialer und individueller Bedürfnisse sowie die Voraussetzung dafür, dass sich Menschen selbst verwirklichen können (vgl. Zimbardo, 1983, S. 415).

Der Begriff der Sicherheit ist allerdings vielschichtig. Die Multidimensionalität wird besonders deutlich, wenn man den deutschen Sprachraum verlässt und die englischen Begrifflichkeiten genauer analysiert. Das Englische unterscheidet nämlich zwischen dem Begriff der certainty und der security. Unter certainty versteht man die Sicherheit, dass die Zukunft und die Gegenwart sich erträglich entwickeln werden und nicht unberechenbar oder sogar potentiell gefährlich sind (vgl. Glaeßner, 2016, S. 33).

Security meint auf der einen Seite Gefühle der Geborgenheit im sozialen, aber auch im räumlichen Sinn. Damit ist auch das Nichtvorhandensein von Gefahren und Ängsten gemeint. Andererseits werden mit diesem Begriff auch Verfahren oder Maßnahmen bezeichnet, wie beispielsweise Verkehrssicherheit oder nationale Sicherheit (vgl. ebd., S. 33).

Das Erstarken populistischer Parteien und Bewegungen ist ein guter Anhaltspunkt, um die Einflussfaktoren auf das Sicherheitsbedürfnis einer Bevölkerung zu betrachten. Populismus lebt davon, einfache Antworten auf schwierige Fragen zu geben (vgl. Öztürk, 2012) und damit in Zeiten des (kulturellen) Wandels ein scheinbares Sicherheitsgefühl zu vermitteln.


Zeiten der Fragen und der Unsicherheiten sind daher auch stets Zeiten, in denen politischer Populismus an Gewicht gewinnt (vgl. Glaeßner, 2016, S. 34). Denn stabile wirtschaftliche, gesellschaftliche, soziale und politische Verhältnisse steigern das Wohlergehen, die Zufriedenheit und das subjektive Sicherheitsgefühl der Menschen. Umgekehrt kann abrupte Veränderung Unsicherheit stiften. Das subjektive Sicherheitsgefühl stellt sich nur dann ein, wenn die Veränderungen der Welt um einen Menschen herum nicht überfordernd wirken und er oder sie sich von diesen auch nicht existentiell bedroht fühlt (vgl. ebd., S. 33).


Was ist Freiheit?

Die Bedeutung des Freiheitsbegriffs hat sich über die Jahrhunderte hinweg entwickelt und verändert. Daher kann man Freiheit auch als ein von Menschen geschaffenes, geistiges Konstrukt bezeichnen. Ähnlich wie der Begriff der Menschenwürde, welcher noch nicht immer existierte und sich inhaltlich über die Zeit hinweg geändert hat, gibt es verschiedene Definitionen und Vorstellungen von Freiheit, was den Begriff schwer greifbar macht.

Im Zeitalter der Sophisten galten Menschen als frei, die nicht durch willkürliche Gesetze in ihrem Handeln bestimmt wurden, sondern durch die Natur. Sokrates definierte etwa 400 v. Chr. Menschen als frei, die ihre Möglichkeiten des Handelns so wählen, dass sie nach der Maßgabe ihrer Vernunft das Beste wählen. Die gewählte Handlungsmöglichkeit muss dabei sowohl bei Sokrates, als auch bei Platon an dem Guten an sich orientiert sein, damit der Mensch, der die Entscheidung fällt, als frei gilt.

Aristoteles dagegen sah den Menschen schon aus seiner Natur heraus als frei an, da dieser im Gegensatz zu Tieren Vernunft, und damit Entscheidungsfreiheit, besitzt und damit zwischen verschiedenen Handlungsoptionen wählen kann (vgl. Prechtl & Burkard, 1999, S. 183). In der römischen Rechtstradition wurde im Plural von Freiheiten gesprochen, womit die Abwesenheit von Verpflichtungen und Zwängen gemeint war (vgl. Glaeßner, 2016, S. 14).

Erst im Zeitalter der Aufklärung entstand die Idee von Freiheit, die mehr der heutigen Vorstellung ähnelt: Die Idee der individuellen Freiheit als natürliche Eigenschaft des Menschen (vgl. Glaeßner, 2016, S. 13). Jean-Jacques Rousseau leitet im Jahr 1762 das erste Buch seines Gesellschaftsvertrags mit den Worten ein: „Der Mensch wird frei geboren, und überall ist er in Ketten“ (Rousseau, 1762). Dies wurde als Aufruf für radikale Veränderungen aufgegriffen und gewann 27 Jahre später große Bedeutung während der Französischen Revolution.

In der Französischen Revolution bildete sich schließlich eine neue Vorstellung des Staats. Er legitimierte sich nun nicht mehr durch Gott, sondern durch die Garantie an die Bürger, Freiheit und Sicherheit aufrechtzuerhalten (vgl. Glaeßner, 2016, S. 14). „Heute kann als unstreitig gelten, dass das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit und die individuelle Freiheit in den Grenzen des Rechts eine conditio sine qua non für jede die Menschenwürde achtende soziale und politische Ordnung darstellen“ (Glaeßner, 2016, S. 15).


Über das Verhältnis zwischen Sicherheit und Freiheit

Die Garantie individueller Freiheit kann in einem Staat nur gewährleistet werden, indem kein Individuum in die Freiheit und das Recht anderer eingreift. Frei sein kann man daher nur, wenn Sicherheit vor der Willkür anderer gewährleistet ist. Wie aber ist das zu erreichen? Welche Voraussetzungen müssen erfüllt werden und welcher Mittel bedarf es, um dem Einzelnen Schutz vor Willkür anderer zu gewährleisten und Freiheit zu garantieren?

Dies sind die Kernfragen, die das Spannungsverhältnis zwischen Sicherheit und Freiheit deutlich machen. Um Freiheit und Sicherheit des Einzelnen zu sichern, müssen rechtliche und politische Ordnungen, Normen und Verfahren, sozialökonomische und institutionelle Bedingungen ständig neu justiert werden. Denn die Welt verändert sich und damit auch die Rahmenbedingungen zur Schaffung von Sicherheiten auf verschiedenen Ebenen des gesellschaftlichen Zusammenlebens.

Es geht beim Spannungsverhältnis zwischen Sicherheit und Freiheit auch nicht nur um existentielle Sicherheiten, wie den Schutz vor Verbrechen gegen das Leben oder die Terrorabwehr. Bauvorschriften, Verfahrensvorschriften, Regulierungen von Rundfunk, von Jugendmedienschutz oder auch Regulierungen des Internets haben das Ziel, durch staatliches Eingreifen Sicherheiten und gleichzeitig Freiheiten zu schaffen. Dabei ist schon lange umstritten, „in welchem Ausmaß die staatliche Ordnung im Interesse der sozialen und politischen Gemeinschaft individuelle Freiheitsrechte normieren soll und, wenn nötig, auch in diese eingreifen darf. Schon Thomas Hobbes (1588–1679) hat in seinem ‚Leviathan’ von 1651 auf die Ambivalenz jeder Freiheitsvorstellung verwiesen“ (Glaeßner, 2016, S. 16).


Freiheit und Sicherheit im Kontext digitaler Medien

Seit Beginn der Entwicklung des Computers und anderer digitaler Medien ging es darum, Informationen schneller und einfacher zu verarbeiten, zu verbreiten und nutzbar zu machen. Die Entwicklung des World Wide Web durch Tim Berners-Lee, der seine Erfindung nicht patentierte, sondern der Welt frei zur Verfügung stellte, unterstreicht den freiheitlichen Gedanken, der mit der Nutzung und gemeinschaftlichen Weiterentwicklung (durch die Nutzer) des Webs verbunden wird.

In den Anfängen der populären Nutzung des WWW in der Mitte der 1990er Jahre wurde oft davon gesprochen, dass durch die anarchische und ungesteuerte Entwicklung des WWW politische Mächte und Interessen dieses nicht zu kontrollieren vermögen. Howard Rheingold sprach sogar davon, dass virtuellen Gemeinschaften die Fähigkeit zugesprochen werden könnte, einen Prozess der Revitalisierung von Demokratie zu fördern (vgl. Rheingold, o.J).

Das Internet hat es auch schwieriger gemacht, für zum Beispiel Unternehmen oder Regierungen, unliebsame Informationen durch Zensur verschwinden zu lassen. Das müssen nicht nur Staaten wie China erleben, welche von Anfang an versuchten, das Internet mit Vorschriften und Einschränkungen zu belegen. Auch Videos, die US-Soldaten beim Foltern von Gefangenen zeigen, haben sich über das Internet und Fernsehen der Weltöffentlichkeit offenbart.

Ganz zu schweigen von den Veröffentlichungen von Edward Snowden oder anderer Whistleblower über das Portal WikiLeaks. Genau diese letzten beiden Beispiele stoßen Regierungen meist unangenehm auf. Sie verweisen oft auf die Auswirkungen solcher Veröffentlichungen für die nationale Sicherheit. Der Zusammenhang zwischen der Freiheit von Informationen und der Sicherheit ganzer Nationen war noch nie so stark ausgeprägt wie heute (siehe dazu auch: Tshwane priciples).

Gleichzeitig nimmt das Internet auch als Ort der Meinungsfreiheit mittlerweile unangenehme Auswüchse in der Form von beispielsweise sogenannter Fake News an. Hier stoßen Meinungsfreiheit und die Möglichkeit von Jedermann, etwas für die Welt zu publizieren, an eine Grenze, die auch als sicherheitsgefährdend angesehen werden kann. Fake News, also Fehlinformationen, die sich als echte Nachrichten tarnen, werden meist über soziale Medien verbreitet, um eine möglichst große Zahl an Menschen zu erreichen. Im Gegensatz zu Satire verfolgen Fake News meist die Absicht, Leserinnen und Leser aus politischem oder wirtschaftlichem Interesse in die Irre zu führen (vgl. LaCapria, 2017).

Sicherheitsgefährdend wird das, wenn Fake News, welche die Freiheit des Internets ausnutzen, den Ausgang von Wahlen beeinflussen oder politische Akteure, basierend auf falschen Informationen, dazu veranlassen, politische Handlungen in Gang zu setzen. Genau dieses Szenario ereignete sich, als der pakistanische Verteidigungsminister Khawaja Asif einen gefälschten Nachrichtenartikel für wahr gehalten hatte und daraufhin Israel mit dem Einsatz atomarer Waffen drohte (vgl. ZEIT ONLINE, dpa, & jr, 2016).


Der Staat, das Internet und die Freiheit

Schon 1996 beschäftigte sich die Konferenz „Computers, Freedom and Privacy“ mit der Frage, wie die Möglichkeiten der modernen Datenverarbeitung und des Datentauschs mit dem Versprechen bürgerlicher Freiheit und dem Schutz der Privatsphäre zu vereinbaren seien (vgl. Glaeßner, 2016, S. 81). Unter anderem der Science-Fiction-Autor Vernor Vinge wurde damit beauftragt, für diese Konferenz eine Zukunftsvision zu konstruieren. Vinge erschuf ein beängstigendes Szenario. Im Mittelpunkt steht ein allgegenwärtiges staatliches Kontrollsystem zur Regulierung beispielsweise des Internets. Dabei sollten das Digitale Ich und immer mehr auch das physische Ich in einer Welt perfekter Regulierung leben (vgl. Glaeßner, 2016, S. 81).

Bis heute ist diese Vorstellung noch keine Realität geworden. Gegen die Initiative der damaligen Familienministerin Ursula von der Leyen, Internetseiten zu sperren und dabei geheime Sperrlisten unter Verwaltung des BKA ohne gerichtliche Kontrolle zu verwenden, entstand im Frühjahr 2009 eine massive Widerstandsbewegung (siehe dazu auch: Das Märchen von Zensursula und den sieben Zwergen) aus Netzaktivisten, Juristen, der IT-Fachpresse, Bürgerrechtlern und der damaligen Opposition. Von der Leyen begründete ihren Vorstoß als Maßnahme gegen Kinderpornografie. Die Kritiker machten jedoch deutlich, dass die Sperrung von Internetseiten eine unwirksame Maßnahme zur Eindämmung von Kinderpornografie sei (siehe dazu: Die dreizehn Lügen der Zensursula), gleichzeitig aber durch die Schaffung einer Überwachungsinfrastruktur Möglichkeiten geschaffen würden, die weitere Zensurmaßnahmen oder sogar eine „Echtzeitüberwachung“ (vgl. Bleich, 2009) umsetzen und dadurch massiv Grundrechte einschränken könnte.

Dieses Beispiel ist eine von vielen Kontroversen, die sich zwischen Sicherheit und Freiheit bewegen. Hier steht die vordergründige Intention, gegen Kinderpornografie vorzugehen und damit Sicherheit zu schaffen, der Einschränkung von Freiheitsrechten gegenüber. Es ist das Abwägen zwischen beidem, was schlussendlich zu der Entscheidung für den Schutz von Freiheitsrechten geführt hat, um auf ein unwirksames, scheinbar Sicherheit schaffendes System zu verzichten.

Ein aktuelleres Beispiel für ein Gesetz zur vermeintlichen Verbesserung der Sicherheit ist das Videoüberwachungsverbesserungsgesetz, über das der Bundestag am 09.03.2017 um 23:50 Uhr abstimmte. Dieses Gesetz unterstützt die Arbeit der Sicherheitsbehörden dadurch, dass es bei der Fahndung nach flüchtigen Amokläufern oder Attentätern hilft. Einen Schutz vor Attentaten bietet es jedoch nicht, was der Bundestag selbst bereits eingestanden hatte (vgl. Reuter, 2017).

Bedenklich sind vor allem die Implikationen für die Freiheitsrechte der Bürgerinnen und Bürger. Bodycams für Polizeibeamte, die bei Demonstrationen eingesetzt werden, oder automatische Lesesysteme für Autokennzeichen können zu einer gigantischen Datensammlung (Big Data) anwachsen und für unterschiedliche Zwecke zur Auswertung herangezogen werden. So erfassen zum Beispiel Mautbrücken die Kennzeichen von allen vorbeifahrenden Fahrzeugen, auch von Pkw. Ob ein Fahrzeug mautpflichtig ist oder nicht, wird per 3D-Abtastung ermittelt. Bislang wurden Datensätze nicht mautpflichtiger Fahrzeuge wieder gelöscht, gemäß § 9 Abs. 5 Bundesfernstraßenmautgesetz.


Big Data, Persönlichkeitsrechte und die Demokratie

Big Data ist ein Begriff, der die Ansammlung riesiger und komplexer Datenmengen bezeichnet, zu deren Verarbeitung und Auswertung hoch intelligente Softwaresysteme eingesetzt werden müssen. Der Staat hat schon immer viele Daten über seine Bürgerinnen und Bürger gesammelt. Das Neue dabei in einer digitalisierten Welt „sind die Möglichkeiten, eine potenziell unendliche Vielfalt von Einzeldaten zu sammeln und mithilfe technischer Mittel und immer elaborierterer Algorithmen zu verknüpfen und auf nahezu alle Bereiche des wirtschaftlichen, sozialen oder kulturellen Lebens anzuwenden“ (Glaeßner, 2016, S. 84).

In der Diskussion über Daten, Datensammlung und Datennutzung wird oft beklagt, dass bürgerliche Freiheits- und Persönlichkeitsrechte im Netz immer weniger gelten und dass es daher notwendig sei, völlig neue Verfahren für den Schutz von persönlichen Informationen und Daten zu entwickeln (vgl. ebd., S. 85). Die Frage ist aber vor allem, wie man den Kernbereich privater Lebensführung vor Eingriffen Dritter, seien es Eingriffe vom Staat oder von wirtschaftlichen Unternehmen, schützen kann, wenn es das Selbstverständnis vieler privater Nutzerinnen und Nutzer ist, die eigenen Daten leichtfertig an Unternehmen wie Facebook und Google weiterzugeben, wodurch privaten und global operierenden Firmen eine Macht zum Eingriff in private Bereiche entwickeln, die sich der Kontrolle demokratisch gewählter Instanzen entzieht. Dadurch entstehen völlig neue Gefahren für die Sicherheit und Freiheit von Bürgerinnen und Bürgern. 


Facebook ist beispielsweise in der Lage zu erfassen, welche Internetseiten ein Nutzer oder eine Nutzerin besucht, welche Inhalte diesen gefallen, daraus unter anderem politische Interessen abzuleiten und weitere Informationen zur jeweiligen Persönlichkeit zu speichern. Das ist das Geschäftsmodell von Facebook: Durch möglichst genaue Informationen über Nutzer möglichst genaue und zielgruppengerechte Werbung anzeigen zu können. 

Jonathan Zittrain, ein Professor für Jura an der Harvard University, prägte im Zusammenhang von Wahlmanipulation und den Möglichkeiten von sozialen Netzwerken wie Facebook den Begriff des „digital gerrymandering“ (vgl. Zittrain, 2014, S. 335). Gerrymandering, oder Wahlkreisschiebung, bezeichnet eine stimmgewinnbringende Manipulation der Grenzen von Wahlkreisen innerhalb eines Mehrheitswahlsystems. Die University of California San Diego untersuchte dieses Szenario in Zusammenarbeit mit Facebook. Dabei wurden 60 Millionen Facebook-Nutzern an einem Wahltag im Jahr 2010 wiederholt Wahlaufrufe mithilfe von Facebook Flash Ads angezeigt. In der Folge nutzten 340.000 mehr Menschen ihr Wahlrecht (vgl. ebd., S. 336). Eine Wahlmanipulation seitens Facebook könnte aktuell nicht ohne die Unterstützung durch Facebook selbst nachgewiesen werden. 

Die Möglichkeit besteht jedoch, dass das Unternehmen bei einer zukünftigen Wahl nur einer speziellen Gruppe von Menschen einen solchen Wahlaufruf anzeigt und damit die Wahlergebnisse zugunsten der eigenen Firmenpolitik oder aus anderen wirtschaftlichen Interessen zu beeinflussen. Nicht nur digitale Wahlkreisschiebung gehört in die Kategorie von Gefahren, welche Wahlergebnisse beeinflussen können. 

Epstein et al. vom American Institute for Behavioral Research and Technology konnten auch Effekte auf Wahlergebnisse nachweisen, die aus der Nutzung von Suchmaschinen und der Monopolstellung von Google hervorgingen (siehe dazu: Search Engine Manipulation Effect). Aus der großen und teilweise nicht regulierten Macht von Internetkonzernen kann daher eine potentielle Gefahr entstehen, nicht nur für die Freiheit und Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger, sondern auch für demokratische Systeme.


Fazit

Die einleitenden Begriffsbestimmungen zu Sicherheit und Freiheit und die anschließende Betrachtung der Verbindung zwischen Sicherheit und Freiheit haben ein Spannungsverhältnis aufgezeigt, das auch im Kontext digitaler Medien besteht. Verschiedene Beispiele haben verdeutlicht, dass es nicht leicht ist zu beurteilen, in welchem Ausmaß ein Staat in individuelle Rechte von Bürgerinnen und Bürgern oder in die Rechte von Unternehmen eingreifen sollte, um sowohl Freiheit als auch Sicherheit aller zu gewährleisten. 

Fake News stellen Wirtschaft und Politik vor eine große Herausforderung, die nicht nur durch neue Gesetze oder Algorithmen zu lösen sind. Vielmehr muss es das Ziel des Staates sein, dass Bürgerinnen und Bürger im Umgang mit Medien die nötige Kritik- und Analysefähigkeit besitzen, um diesem Problem Herr zu werden.

Das Beispiel des Vorschlags zur Sperrung von Internetseiten (Ursula von der Leyen, 2009) hat den schmalen Grad verdeutlicht zwischen dem Wunsch nach Schaffung von Sicherheit und den daraus resultierenden Gefahren für die Freiheit und einer Annäherung an das von Vernor Vinge beschriebene allgegenwärtige Kontrollsystem.

Mit dem Videoüberwachungsverbesserungsgesetz schafft der Staat allerdings weitere Möglichkeiten zur Sammlung gigantischer Datenmengen, zusätzlich zu den bereits existierenden. Zwar werden solche Gesetze heute zur Verbesserung der Sicherheitslage verabschiedet, die Frage bleibt jedoch offen, was in Zukunft mit staatlich gesammelten Daten geschieht. Denn es besteht die Gefahr, dass Daten bei einem Hackerangriff von Einzeltätern oder einem anderen Staat entwendet werden. Auch können sie gegen die eigene Bevölkerung eingesetzt werden, wenn sich Werte und Normen durch einschneidende Ereignisse, wie zum Beispiel nach den Anschlägen vom 11. September, ändern. Sicherheit wurde schließlich seit 2001 vor allem im Zusammenhang mit Terrorismus von Politikern unterschiedlicher Länder häufig als wichtiger angesehen als Freiheit. 

Letztlich sind im digitalen Zeitalter aber nicht nur Staaten für die Freiheit und Sicherheit von Menschen verantwortlich. Ein möglicher Einfluss von Unternehmen wie den big four (Google, Facebook, Amazon, Apple) auf demokratische Systeme wurde am Beispiel digitaler Wahlkreisschiebung beleuchtet. Schlussendlich kann es kein wünschenswerter Zustand sein, Unternehmen in einem ähnlichen Maße vertrauen zu müssen wie einer rechtsstaatlichen Ordnung, denn Unternehmen hegen immer auch wirtschaftliche Interessen, die nicht den Interessen ihrer Kunden entsprechen müssen.

Die spannungsreichen Wechselbeziehungen zwischen Freiheit und Sicherheit sind daher im Zeitalter der Digitalisierung immer wieder neu zu prüfen. Durch neue Entwicklungen und technische Möglichkeiten ergeben sich auch immer neue Auswirkungen auf die Sicherheit von zum Beispiel personenbezogenen Daten und deren Nutzung durch die Wirtschaft. Sollten staatliche Eingriffe nötig werden, dürfen diese jedoch nur unter der Prämisse geschehen, dass Freiheit und Sicherheit gleichwertige Güter sind, die nicht in einer hierarchischen Ordnung zueinanderstehen sollten (vgl. Glaeßner, 2016, S. 33).


Literatur


Bleich, H. (2009). Heise online. Abgerufen am 10. März 2017 von Kinderporno-Sperren: Regierung erwägt Echtzeitüberwachung der Stoppschild-Zugriffe: https://www.heise.de/newsticker/meldung/Kinderporno-Sperren-Regierung-erwaegt-Echtzeitueberwachung-der-Stoppschild-Zugriffe-215637.html

Glaeßner, G.-J. (2016). Freiheit und Sicherheit. Eine Ortsbestimmung. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung.

LaCapria, K. (2017). Snopes’ Field Guide to Fake News Sites and Hoax Purveyors. Abgerufen am 09. März 2017 von Snopes: http://www.snopes.com/2016/01/14/fake-news-sites/

Öztürk, A. (2012). Populismus. Editorial. Abgerufen am 11. März 2017 von Bundeszentrale für politische Bildung: http://www.bpb.de/apuz/75846/editorial

Prechtl, P. & Burkard, F.-P. (1999). Metzler Philosophie Lexikon. Stuttgart/Weimar: J.B. Metzler Verlag.

Reuter, M. (2017). Bundesregierung: Bislang keine Anschläge mit Videoüberwachung verhindert. Abgerufen am 7. März 2017 von Netzpolitik.org: https://netzpolitik.org/2017/bundesregierung-bislang-keine-anschlaege-mit-videoueberwachung-verhindert/

Rheingold, H. (1993). The electronic version of "The Virtual Community". Chapter Ten: Disinformocracy. Abgerufen am 11. März 2017 von Howard Rheingold: http://rheingold.com/vc/book/10.html

Rousseau, J.-J. (1762). Der Gesellschaftsvertrag oder Die Grundsätze des Staatsrechtes. Abgerufen am 11. März 2017 von Zeno.org Meine Bibliothek: http://www.zeno.org/Philosophie/M/Rousseau,+Jean-Jacques/Der+Gesellschaftsvertrag/Erstes+Buch/1.+Inhalt+des+ersten+Buches

ZEIT ONLINE, dpa & jr. (2016). Pakistans Verteidigungsminister droht Israel mit Nuklearschlag. Abgerufen am 09. März 2017 von ZEIT ONLINE: http://www.zeit.de/politik/ausland/2016-12/fake-news-pakistan-israel-drohung-khawaja-asif

Zimbardo, P. G. (1983). Psychologie. Berlin/Heidelberg/New York/Tokyo: Springer.

Zittrain, J. L. (2014). Engineering an Election. Abgerufen am 11. März 2017 von SSRN: https://poseidon01.ssrn.com/delivery.php?ID=169000029071116016013105117098126117021004027015095011118100081127066115069076085092012120100121011044030126124083119095086116104074001083064089010028005117019101030022033070108001020003085095028004028090011080010095068023028109002123092079088127106&EXT=pdf

2 Kommentare:

  1. Vielen Dank für diesen hervorragenden Beitrag. Ausgewogen geschrieben, viele wichtige Aspekte beleuchtet und in Zusammenhang gesetzt! Das Fazit nimmt alle Einzelteile noch einmal auf und ist eine sehr gute Zusammenfassung des gesamten Artikels!
    Ein sehr spannendes und gesellschaftlich wichtiges Thema!
    DANKE, NINA!

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  2. Auch ich bedanke mich für den ausführlichen Beitrag, der die Wichtigkeit des Zusammenhalt symbolisiert. Es ist ein wirklich gesellschaftliches Thema, das alle angeht, da zwischenzeitlich fast alles vernetzt ist. www.denkstop.blogspot.com

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