Freitag, 15. Oktober 2010

Das Web 2.0 in totalitären Staaten

Der nachfolgende Beitrag von Martin Schmitt ist im Rahmen des Seminars “Politik 2.0 – Wie das Web 2.0 Politik und Regieren verändert” , das im SS 2010 am Institut für Politikwissenschaft der Universität Tübingen stattfand, entstanden.

Das World Wide Web revolutioniert die Politik. Vormals zu Passivität verdammte Bürger können sich nun durch die neuen technischen Möglichkeiten und deren sozialer Nutzung aktiv an politischen Prozessen zu beteiligen. Durch die dynamischen Kommunikationsformen ergeben sich Räume politischen Austausches und politischer Gemeinschaftsbildung. Vorher unüberwindbare Mauern werden eingerissen und die Politik transparenter gestaltet. Umfassende Informationen sind oftmals nur noch einen Mausklick entfernt. Insbesondere mit dem sogenannten „Web 2.0“ erfuhr diese potenzielle Möglichkeit in den letzten Jahren in den westlichen Industriegesellschaften einen enormen Schub.

Wie aber sieht es jenseits des Westens aus? Welche Rolle kann das „Web 2.0“ in nicht-demokratischen und totalitären Staaten spielen? Unterminiert es etablierte Herrschaftsformen durch umfassende Verfügbarkeit unzensierter Information, durch neue, horizontale Kommunikationsmöglichkeiten und hochflexible, netzwerkartige Organisationsformen? Oder gibt es autokratischen Regimen neue Werkzeuge der Herrschaftsausübung und der Kontrolle in die Hand?

Einen ersten Blick auf diese hochkomplexen und weitreichenden Fragen bieten uns die Fallbeispiele des Konflikts zwischen Google und China im Anfang 2010 und die mit den Wahlen im Iran einhergehenden Bevölkerungsproteste im Jahr 2009.

Google contra den chinesischen Staat: Die neue Macht der Internetkonzerne

Der Konflikt zwischen Google und der chinesischen Regierung schwelte bereits seit mehreren Jahren, bevor er im März 2010 eskalierte. Grundlegend geht es in der Auseinandersetzung um die von China verlangte Zensur der Suchergebnisse durch das amerikanische Suchmaschinenunternehmen Google. In China werden zum „Schutze des eigenen Volkes“ bestimmte Informationen im Internet, wie zum Massaker auf dem Tian‘anmen-Platz oder der Tibetischen Unabhängigkeitsbewegung, zensiert. Da über Google dazu Informationen abrufbar waren, gab es aus China vor 2006 nur einen sehr volatilen Zugang auf die amerikanische Seite der Suchmaschine.

Um auf dem boomenden chinesischen Markt nicht außen vor zu bleiben, eröffnete das Unternehmen 2006 einen chinesischen Ableger seiner Seite und unterwarf sich dafür der chinesischen Zensur. Offiziell begründete das Google damit, dass es seinen Handlungsspielraum langsam erweitern wolle, sich dafür aber an die Regeln halten müsse. Es war der Versuch, als Internetschwergewicht die chinesische Praxis von Innen heraus aufzuweichen. Nach und nach erweiterte Google in einem spannungsgeladenen Verhältnis zur chinesischen Regierung sein Angebot. Anfänglich bot es nur die Suche an, später auch Angebote wie beispielsweise Google Mail.

Google Mail wurde dann auch zum Stein des Anstoßes, als im Dezember 2009 ein massiver Hackerangriff auf Googles Mailserver gefahren wurde. Die Spuren des Angriffs ließen sich laut Google auf China zurückführen. Insbesondere Konten von Dissidenten waren gehackt worden. Das Unternehmen Google reagierte: Man werde sich das nicht gefallen lassen und sich zukünftig nicht mehr der Selbstzensur unterwerfen. Besucher der chinesischen Webseite wurden automatisch zur nichtzensierten Seite in Hong-Kong weitergeleitet. Die chinesische Regierung reagierte brüskiert, da ihre Zensurpraktiken offengelegt waren. Tatenlos blieb sie allerdings nicht. Zum einen drohte sie damit, Googles Lizenz als Inhalteanbieter in China nicht zu erneuern. Das hätte das Ende der chinesischen Variante der Suchmaschine bedeutet. Zum anderen wurden bestimmte Suchtreffer blockiert. Nutzer sahen deren Überschriften allerdings weiterhin die Ergebnisliste, nur die Seite selbst war nicht zu erreichen. Damit wurde deutlich, was zensiert wird. Um seine Lizenz in China nicht zu verlieren, einigten sich Google und die chinesische Regierung schließlich auf einen Kompromiss: Google stoppte die direkte Weiterleitung, durfte aber weiterhin mit einem Link auf die Seite in Hong-Kong hinweisen. Die Lizenz wurde daraufhin verlängert.

Für den Politikwissenschaftler ergeben sich aus dem Konflikt zwischen China und Google zwei interessante Implikationen. Erstens werden internationale Internetunternehmen zunehmend zu politischen Akteuren. Ihre Macht über die essenziellste menschliche Eigenschaft, die Kommunikation, erlaubt ihnen, sogar Staaten die Stirn zu bieten. Freilich geschieht dies aus Eigeninteresse, begleitet von einer utopischen Rhetorik der Verbesserung der Welt. Google hat ein vitales Interesse an einem freien Informationsaustausch, der keiner staatlichen Kontrolle unterworfen ist. Darauf basiert sein Geschäftsmodell: Möglichst viele Informationen mit Werbung zu versehen. Das erklärt Googles Verhalten in diesem Konflikt.

Warum aber lässt sich der chinesische Staat auf einen Kompromiss mit Google ein, statt es aus dem Land zu jagen? Eine These dafür wäre, dass die chinesische Regierung die wirtschaftlich wichtige Mittelschicht, bei der Google eine hohe Popularität hat, nicht vergraulen will. Das Zugeständnis wäre dann weniger eines an Google, als an die eigene Bevölkerung. Die rigide Kontrollpolitik wird mit dem Anschein der Informationsvielfalt und der Popularität des US-Konzerns versüßt.

Daraus ergibt sich die zweite Implikation für den Politikwissenschaftler: Die neuen Kommunikationsmöglichkeiten sind aus dem Leben der Menschen nicht mehr wegzudenken. Sie verändern die Art der Informationsbeschaffung und des Informationsaustausches, mit enormen Folgen für die politische Sphäre. Das bekommt auch China zu spüren, das seinen eigenen Weg gefunden hat, damit umzugehen.

Die Wahlen im Iran – Neue Möglichkeiten medialer Aufmerksamkeitsgenerierung

Die politikverändernde Kraft der neuen Kommunikationstechnologien und deren massenhafter Nutzung wurde auch im Iran deutlich. Im Hinblick auf die staatliche Zensur sieht es dort ganz ähnlich aus, auch hier wird das Internet mit vergleichbaren Methoden wie in China auf das Schärfste zensiert. Trotzdem konnte nicht verhindert werden, dass es bei den Protesten gegen das Ergebnis der Wahlen im Sommer 2009 den Regimegegnern gelang, das Web zur Generierung von Aufmerksamkeit zu nutzen. Da das iranische Regime die klassischen Kanäle der Medienberichterstattung blockierte, wurden nutzergenerierte Inhalte zu deren zentraler Quelle. Ein von Regimegegnern auf die Videoplattform YouTube hochgeladenes Handyvideo über eine bei den Protesten von den iranischen Sicherheitskräften getötete Frau führte beispielsweise weltweit zu Empörung. Auch die Proteste im eigenen Land schwellten vermutlich auf Grund des Videos massiv an. Das Web ermöglichte dabei einen Sichtkorridor in bis dahin staatlich unterdrückte Bereiche gesellschaftlichen Aufbegehrens.

Dazu gaben ihnen die neuen Technologien die Möglichkeit. Sowohl zur internen Kommunikation wie Beispielweise per Mail, Mobiltelefon oder Twitter, wie auch zur Produktion und Publikation von Inhalten durch Google Docs, YouTube oder Blogs.

Dabei wurden aber auch die Probleme der netzgestützten Vermittlung sowohl für Prostierende wie auch für die berichtenden Journalisten deutlich. Es war selten klar, aus welchen Quellen die jeweiligen Bilder stammten. Waren sie instrumentalisiert, oder die bildeten sie die Realität im Lande ab? Das hatte teils skurrile Ergebnisse. So trugen Protestierende auf ihren Schildern das vermeintliche Bild der oben genannten, von Sicherheitskräften getöteten Frau. Die Bilder zeigten allerdings gar nicht die Frau, sondern nur eine Frau gleichen Namens. Das Bild war aus Facebook heruntergeladen worden. Auch seriöse Medien wie die Tagesthemen erlagen der suggestiven Kraft der Bilder. Erst nach einem Hinweis aus dem Publikum klärte sich beispielsweise, dass ein in der Sendung ausgestrahltes, vermeintlich aktuelles Video der Proteste bereits ein halbes Jahr alt war.

Der einzelne Nutzer hat zunehmend publizistische Macht, da die Eintrittsschranken durch die neuen Medien deutlich gesunken sind. Dadurch wird es für den Rezipienten aber umso wichtiger, Inhalte kritisch zu hinterfragen.

Gleichzeitig bemächtigte sich das iranische Regime der neuen Kommunikationsmittel. Wo eine massenhafte Überwachung der Kommunikation nicht möglich war, wurden die Kommunikationsmöglichkeiten erst einmal radikal eingeschränkt. Das Internet im ganzen Land war während der Proteste kaum oder nur sehr langsam zu erreichen. Mobilfunknetze wurden gezielt abgeschaltet. Durch kompromittierende Videos und massenhaft gefälschte Beiträge in „Web 2.0-Art“ wurden die Proteste diskreditiert – eine Taktik, die auch in China verbreitet ist. Doch es ging noch viel weiter: Iranische Regimegegner wurde im Internet identifiziert und öffentlich gemacht. Regimefreundliche Gruppen sollten sich ihrer „annehmen“. Zudem wurden die Aktivitäten von Regimegegnern protokoliert, ihre Webaccounts gezielt gehackt und damit ihr ganzes Umfeld offengelegt. Für den Einzelnen und seine Angehörigen hatte das massive Konsequenzen: Vom Ausschluss aus der Universität, über negative Auswirkungen auf die eigene Karriere bis hin zu Folter, Vergewaltigung und Gefängnis. Die Proteste scheiterten und die Welt interessiert sich inzwischen mehr für Computerviren in iranischen Atomanlagen als für das Schicksal der „Twitterrevolutionäre“.

Fazit: Ein zwiespältiges Bild

Beide Fallbeispiele hinterlassen so ein zwiespältiges Bild. Einerseits ergeben sich durch die neuen technologischen Möglichkeiten und ihrer massenhafte Verbreitung radikal neue Möglichkeiten. Sie bemächtigen Individuen, durch Kommunikation, Publikation und Kollaboration auf die vormals verschlossene politische Ebene Einfluss zu nehmen. Das Web alleine reicht dazu nicht. Besteht allerdings eine ‚kritische Masse‘ zivilgesellschaftlichen Engagement, die sich die neuen Werkzeuge zu Nutzen macht, erhalten ihre Handlungen eine ungeahnte Wucht. Autoritären Regimen fällt es dann zunehmend schwerer, ihren alleinigen Machtanspruch mit repressiven Methoden und der allumfassenden Kontrolle der Kommunikation der eigenen Bevölkerung durchzusetzen. Gleichzeitig rüsten aber auch sie auf. Die neuen technischen Möglichkeiten in Verbindung mit enormen staatlichen Ressourcen geben ihnen die Macht allumfassender, computergestützter Kontrolle und damit der Unterdrückung ihrer eigenen Bevölkerung.

Martin Schmitt