Sonntag, 15. Juli 2012

Honneth über Erziehung und Demokratie

Durch den Beitrag "Autoritätshörigkeit und moralischer Konformismus" von Gabi Reinmann bin ich auf die Eröffnungsrede von Axel Honneth beim 23. DGfE-Kongress (12. März 2012) aufmerksam geworden. Die unter einer CC-Lizenz in der Zeitschrift für Erziehungswissenschaft erschienene Rede ist überschrieben mit: "Erziehung und demokratische Öffentlichkeit. Ein vernachlässigtes Kapitel der politischen Philosophie".

Ausgehend von Kant erinnert Honneth an den - etwas in Vergessenheit geratenen - unauflöslichen Zusammenhang von demokratischem Staat und Erziehung (zur Demokratie) bzw. von Regierungs- und Erziehungskunst. Beide
"...müssen uns durch geschickte Wahl der Mittel und Methoden, eben durch eine Art von 'Kunst', darin unterrichten können, wie das eine Mal ein Volk von Untertanen, das andere Mal ein seiner Natur noch unterworfenes Kind aus dem Zustand der Unmündigkeit in den der Freiheit zu versetzen sei."
Beide bedingen sich wechselseitig, weil nach wie vor "keine Demokraten vom Himmel fallen", wie der Mitbegründer von Politikwissenschaft und politischer Bildung (damals übrigens auch noch eng miteinander verbunden) im Nachkriegsdeutschland, Theodor Eschenburg, immer wieder betonte.

Demokratie ist eine äußerst voraussetzungsvolle Lebens-, Gesellschafts- und Herrschaftsform (so der Titel eines einflussreichen Buches von Gerhard Himmelmann) - ein Umstand, der von den politischen Bildnern in Deutschland angesichts drohender Budgetkürzungen zurecht hervorgehoben wird (vgl. neben vielen anderen den Sammelband "Demokratie braucht politische Bildung" sowie die gleichnamige Website).

Doch zurück zu Honneth: Er widmet den ersten Teil seiner Rede den Gründen "für die inzwischen eingetretene Entkoppelung von Pädagogik und politischer Philosophie":
"...sie liegen ... in einem fatalen, 'wahlverwandtschaftlich' zu nennenden Zusammenschluss von problematischen Auffassungen über die kulturellen Voraussetzungen der Demokratie und einem falsch verstandenen Neutralitätsgebot des Staates."
Im zweiten Teil vertieft er seine Ausführungen zum "Zusammenhang von Erziehung und politischer Freiheit, von Bildung und Demokratie". Beide Teile sind ausgesprochen lesenswert und anregend. Der (gezwungenermaßen) sehr kurz geratene dritte Teil wartet mit einer Überraschung auf: Honneth nennt zwei zentrale Herausforderungen für ein "erneuertes Programm der demokratischen Erziehung", nämlich Multikulturalismus und die (im hiesigen Zusammenhang von Web 2.0 und politischer Bildung zentrale) digitale Revolution:
"Für jeden aufmerksamen Zeitgenossen dürfte gegenwärtig außer Frage stehen, dass die digitale Revolution der Kommunikationsverhältnisse nicht nur die Formen der Anbahnung und Aufrechterhaltung privater Beziehungen, sondern auch die Wege der politischen Meinungsbildung nachhaltig verändern wird; mit dem Internet, das den Einzelnen in die Lage zugleich einer Enträumlichung und Beschleunigung seiner Interaktionen versetzt, entstehen heute mit wachsendem Tempo eine Vielzahl von Netzöffentlichkeiten, deren Außengrenzen und Themen im ständigen Fluss begriffen sind. Es ist gewiss die Aufgabe des schulischen Unterrichts, die Schüler auf den Gebrauch dieses neuen Mediums technisch und sozial vorzubereiten..."
Es bleibt zu hoffen, dass die etablierte Politikdidaktik diesen Weckruf hört. Die bisherige Bilanz sieht eher ernüchternd aus, wie ich in diesem Blog schon mehrfach angemerkt habe (z.B. "Politikdidaktik in Deutschland und das Web 2.0"). Was man der politischen Bildung allerdings nicht vorwerfen kann, ist genau das, was Honneth der politischen Philosophie ankreidet, nämlich den zwingenden Zusammenhang von Demokratie und Erziehung (zu deren Regenerierung) zu vernachlässigen, denn genau darum dreht(e) sich die interessanteste Debatte innerhalb des Fachbereichs, die übrigens auch von erziehungswissenschaftlicher Seite ausging (BLK-Programm "Demokratie lernen & leben"). Eine kurze Darstellung dieser Debatte findet sich hier...

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