Der nachfolgende Beitrag von Chris Wohlwill ist im Rahmen des Seminars “Politik 2.0 – Wie das Web 2.0 Politik und Regieren verändert” , das im SS 2010 am Institut für Politikwissenschaft der Universität Tübingen stattfand, entstanden.
Im Internet und in den Medien findet ein Krieg statt: Ein Krieg um die Geheimhaltung von Informationen, die schon längst nicht mehr geheim sind. WikiLeaks wird gejagt, auf allen Domänen, auf allen Kontinenten dieser Welt und amerikanische Regierungskreise speien Gift und Feuer, wenn sie den Namen Julian Assange nur hören. Während "Transparenz" und die Offenlegung politischer Vorgänge schon seit geraumer Zeit auf vielen politischen und gesellschaftlichen Ebenen diskutiert werden, hat die Affäre um Wiki-Leaks und seinen Gründer Julian Assange das Thema nun zu einem der zentralen Themen der Massenmedien erhoben. Der Australier ist plötzlich zum Staatsfeind Nummer 1 geworden, Fox fordert seine Ermordung durch US-Geheimdienste (unterstützt von republikanischen Politikern (!) wie Mike Huckabee und Sarah Palin, ein amerikanischer Ex-General und Vorsitzender der „Joint Chiefs of Staff“ vergleicht Assange öffentlich (bei Jon Stewart, aber trotzdem!) mit Osama bin Laden, der jetzt vermutlich Staatsfeind Nummer 2 sein muss) und das Außenministerium der USA beschuldigt in einem offenen Brief Julian Assange, sehenden Auges tausende von Leben amerikanischer Bürger zu gefährden.
Ganz neu ist die Idee transparenter Politik in den USA eigentlich nicht: Das Land hatte eines der frühen Informationsfreiheitsgesetze (den Freedom of Information Act von 1966) und auch die aktuelle Regierung unter Präsident Barack Obama ist mit einer ehrgeizigen Agenda im Bereich Informationsfreiheit angetreten, namentlich der "Open Government Directive" (OGD).
Auf diese bezieht sich auch Assange, wenn er selber sein Handeln und das Ziel seiner Veröffentlichungen als „radikale Transparenz“ bezeichnet. Er sieht sich als ausführenden Arm einer von Obama begonnenen Policy auf „einer neuen Ebene“. Doch kann man Wiki-Leaks wirklich als „Fortführung der Open Government Directive mit anderen Mitteln“ sehen ?
Diese Frage will der Text im Folgenden beantworten, indem die Open Government Directive näher vorgestellt wird, um dann einen Vergleich zum Skandal um den Ansatz radikaler Transparenz von WikiLeaks herzustellen.
Die Open Government Directive von Barack Obama
Das Ziel der OGD von Obama, die er schon am Morgen nach seiner Amtseinsetzung initiierte, war es, der Geheimhaltungskultur in Washington, D.C. entgegenzuwirken und die Bürgerinnen und Bürger der USA direkter zu informieren. Die USA bräuchten, so hatte Obama es schon in seinem Wahlkampf mehrmals gesagt, mehr Demokratie, Offenheit und Effektivität in ihrer Bundes- und Landespolitik. Die Offenlegung von Informationen und Vorgängen durch Regierungsbehörden führe zu einer Rechenschaftspflicht der Regierung gegenüber ihrem Souverän, dem Volk und den Medien. Das Regierungshandeln sollte deutlich transparenter, die Regierungsorganisationen dadurch haftbar werden.
Auf nur elf Seiten stellte Obama während der „Transition“ seine Richtlinie vor, die auf den drei Prinzipien von Transparenz, Partizipation und Kollaboration beruhte und kurze Fristen für die Durchführung der Regulierungen setzte. Der erste Schritt war Transparenz: Binnen 45 Tagen sollten Behörden ihre Datensätze veröffentlichen und spätestens nach zwei Monaten online verfügbar machen. Nach weiteren zwei Monaten sollten politische Grundsätze der Behörden, die Transparenz erschweren würden, aus den behördlichen Bestimmungen eliminiert sein. Ein äußerst ehrgeiziger und weitgehender Politikvorstoß war geboren.
Vorbereitung und Durchsetzung der Richtlinie
Auch die Vorbereitung der OGD fanden bereits im Sinne der Grundprinzipien offener Regierungsweise statt: In drei Phasen wurden, im Verlauf des Jahres 2009, interessierte Bürger in die Entwicklung der Richtlinie eingebunden:
Phase eins umfasste ein einmonatiges Brainstorming, an dem teilzunehmen alle Bürger der USA aufgerufen waren. Sie konnten online Vorschläge machen, Ideen einstellen und in Kommentaren bei der Weiterentwicklung der Thesen zusammenarbeiten. Im Rahmen dieses „Open Government Dialogue“ kamen mehr als 1000 Ideen zusammen, über deren Weiterentwicklung dann die Online-User abstimmen konnten. In Phase zwei konnten dann die Teilnehmer über die gesammelten Ideen und Thesen diskutieren und abstimmen, welche Themen und Politiken von Transparenz sie als besonders wichtig werteten.
Phase drei umfasste die Erstellung eines Blogs mit den Zwischenergebnissen des „offenen Dialogs“ und Artikeln zu den „Drei Prinzipien“. Die Weiterbearbeitung der Ergebnisse erfolgte auf einer Plattform, auf der wie bei einem Wiki Änderungen und inhaltliche Anpassungen von allen Benutzern offen nachvollzogen werden konnten.
Aus diesen in den drei Phasen akkumulierten Informationen und Ideen erstellten Mitarbeiter aus dem Kreis von Obamas Präsidentschaftskampagne dann die OGD, die vor rund einem Jahr, am 8. Dezember 2009 in Kraft trat. An der Erstellung hatten 375 Bürger teilgenommen, die sich in insgesamt mehr als 2000 Beiträgen über ihre Wünsche und Ideen geäußert hatten. Die relativ geringe Beteiligung wird allgemein vor allem auf die kurzen Reaktionszeiten und Zugangsschwellen durch die ungewohnte Technik zurückgeführt.
Bewertung der Richtlinie
Die Umsetzung der OGD durch die Behörden und Agenturen der US-Regierung fand im ersten Quartal 2010 statt. Im April hatten alle Behörden und Agenturen neue Webseiten veröffentlicht. Als besonders positives Beispiel für Transparenz wurde die neue Webseite der NASA gelobt, die neben einer Cloud Computing Plattform für wissenschaftliche Informationen auch einen direkten Kommunikationskanal zu den aktiven Astronauten eröffnet hatte. Die Bevölkerung war aufgerufen, die Änderungen selber zu bewerten. Zu diesem Zweck richtete die Regierung auf der Webseite des Weißen Hauses einen „Open Government“-Bereich ein und ein großer Dachverband von amerikanischen Transparenzinitiativen führte ein Rating-System für die neuen Änderungen ein.
Insgesamt wurde die Einführung der Richtlinie durchweg positiv bewertet. Es fehlten noch Schritte für eine „Regierung 2.0“, aber der richtige Weg sei eingeschlagen und die Ideen von Transparenz und Partizipation seien „in den Köpfen angekommen“. Kritisiert wurde, dass in der Entwicklungsphase weder die Verwaltung selber noch Experten aus den Politikwissenschaften eingebunden waren. Sie konnten sich „nur“ wie jeder andere Bürger über die Internet-Plattform beteiligen.
Fazit
Die Entwicklung von Transparenz und der korrespondierenden Technik (Webanwendungen) muss zeitgleich und koordiniert erfolgen. Nur so kann mit der neuen Technik auch eine „neue Demokratie“ wachsen. Ohne Technologien zur Aggregation und Bewertung der Daten ist die Gefahr eines „information overload“ immanent. Wenn die Entwicklungen koordiniert erfolgen, bietet die Richtlinie allerdings für Bürgerinnen und Bürger nie zuvor bestehende Chancen für freie und unabhängige Information und Partizipation. Über die neuen Medien können sie der Regierung schnell und direkt Rückmeldung darüber geben, ob aktuelle Politiken für ihre Bedürfnisse relevant sind und auf eine effektive Art und Weise geplant und ausgeführt werden. Die Offenheit der Politiken kann und soll eine neue „Kultur behördlichen Arbeitens“ schaffen, die das effektive Regierungshandeln neuen Maßstäben unterwirft und den Einfluss des Einzelnen auf politische Entscheidungen erhöht, während die Möglichkeit für Interessensverbände und die Wirtschaft sinken, im Geheimen auf die Politikprozesse Einfluss zu nehmen. Offeneres Regierungshandeln kann auf mittlere oder längere Sicht die Hierarchien der politischen Entscheidungsfindung deutlich verändern.
Open Government vs. WikiLeaks – Motivationen und Ziele
Offen bleibt mit diesem Ansatz des offenen Regierungshandelns, welche Grenzen der Transparenz gesetzt sind und auch gesetzt sein sollen. In einem TV-Interview mit dem Nachrichtensender CNN hatte Obama selber einmal die Grenze dort gesetzt, wo die nationale Sicherheit oder die Sicherheit von BürgerInnen der USA gefährdet sein könnten. Der Standpunkt von Regierungen dazu ist, dass die Entscheidung darüber, welche Informationen das sein können, bei den Regierungen, bzw. ihren Sicherheitsorganen verbleiben muss.
Julian Assange stellt mit WikiLeaks und seinem Prinzip der „radical transparency“ dieses bleibende Geheimhaltungsprinzip in seiner Absolutheit in Frage. Mit der Veröffentlichung von Dokumenten des Außenministeriums und einer großen Anzahl geheimer Depeschen, welche die Vorgänge um den Afghanistan-Krieg in ein ganz neues Licht rücken, stellt Assange in Frage, ob geheimes Regierungshandeln jeglicher Form in einer Welt der digitalen Informationsverteilung als erstrebenswert gelten kann. Für ihn und seine Unterstützer ist WikiLeaks gelebtes „Open Government“. Ihr Argument: Wirkliche Offenlegung des Regierungshandelns kann und darf nicht von Regierungen selber zensiert und kontrolliert werden. Es muss die Entscheidungskompetenz über die Informationen dem demokratischen Souverän, also dem Volk zurück geben.
Also verfolgen WikiLeaks und die OGD sicher zwar beide eine Form von Transparenz politischer Vorgänge, aber die Stoßrichtungen sind so verschieden, dass ein Vergleich praktisch hinken muss. In einschlägigen aktuellen Blogbeiträgen wird gern beides vermischt, aber die Motivation ist doch eine andere: WikiLeaks will absolute Offenlegung aller politischen (und militärischen, diplomatischen, etc.) Vorgänge, die OGD will dem Bürger ermöglichen, an vorbereiten Politikprozessen direkter als zuvor teilzunehmen und legt dafür auch bestimmte Informationen offen, die zuvor eher der behördlichen Geheimhaltung unterlagen.
Auch die Ziele, die beide verfolgen, sind verschieden: Während der Open Government-Ansatz politisches Handeln verbessern und nachvollziehbarer machen will, ist das Ziel von WikiLeaks, vergangenes Fehlverhalten von Regierungen und ihren Exekutivorganen aufzudecken. Der Datenschutz, die Wahrung von Betriebsgeheimnissen oder die öffentliche Sicherheit spielen dabei, wenn überhaupt, nur eine untergeordnete Rolle. Open Government oder andere Ansätze von Open Data sind sich hier in ihrer Grenzsetzung einig.
Während also beide Initiativen eine Form von Transparenz verfolgen, würde es doch zu weit gehen, die gleichen Grundgedanken hinter beiden zu vermuten. Man kann zu WikiLeaks stehen wie man mag, seine Ablehnung durch Obama-Regierung mit dem Hinweis auf Open Government zu diskreditieren, wäre eine falsche Darstellung der Politik der amerikanischen Regierung.
Natürlich ist in dem Rahmen dieser Veröffentlichung nur eine oberflächliche Betrachtung des Themas möglich. Doch scheint offenbar, dass bei der Prominenz dieses Themas der Fokus auf dem Skandalösen liegt und der Blick für die Nuancen der politischen Philosophie hinter WikiLeaks verloren geht. In Bezug auf diesen und ähnliche Punkte gibt es große Defizite in der öffentlichen Debatte. Sie sollten, auch im Sinne einer verantwortungsvollen politischen Berichterstattung, jedoch weiter diskutiert werden.
Chris Wohlwill
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